osmanische Herrschaft in Südosteuropa: Halbmond über Europa

osmanische Herrschaft in Südosteuropa: Halbmond über Europa
osmanische Herrschaft in Südosteuropa: Halbmond über Europa
 
Die Herkunft der Osmanen
 
Der Eroberung der Balkanhalbinsel durch die Osmanen war eine längere Phase gemeinsamer Verteidigungsanstrengungen des christlichen Europas gegen den Halbmond vorangegangen, die sich noch auf dem Boden Kleinasiens abspielte. 1071 hatte der Seldschukensultan Alp Arslan den byzantinischen Kaiser Romanos IV. Diogenes bei Mantzikert am Vansee vernichtend geschlagen und sich den Weg auf Reichsterritorium freigekämpft. Waffenhilfe durch die westlichen Kreuzfahrerheere und eigene Anstrengungen ermöglichten es den Komnenenkaisern, die vorrückenden Seldschuken wieder zurückzudrängen und das Sultanat Rum auf die Zentralregion Kleinasiens um Konya zu beschränken.
 
Eine kurzzeitige Entlastung an der kleinasiatischen Front verdankten die nachfolgenden Palaiologenkaiser den aus dem Osten vordringenden mongolischen Welteroberern. Das Seldschukenreich löste sich unter ihrem Ansturm in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts in mehrere Teilherrschaften auf. In den Emiraten, die unmittelbar an das byzantinische Westanatolien angrenzten, hielt die andauernde alltägliche Konfrontation mit den Ungläubigen den heroischen Geist des Glaubenskampfes lebendig. Fanatische islamische Krieger (ghasi) strömten aus entfernteren Regionen zusammen, um für die Verbreitung des Islam zu kämpfen.
 
Die Herrscherdynastie der Osmanen wurde in diesem Kreis der Glaubenskämpfer groß. 1299 hatte sie sich unter Osman I. Ghasi aus der seldschukischen Oberherrschaft gelöst und mit erstaunlicher Zähigkeit begonnen, ihren Machtbereich auszuweiten. Im nordwestlichen Kleinasien brachten sie 1326 Brussa, 1331 Nikaia und 1337 Nikomedia in ihre Gewalt. Zum Übergang über die Meerengen ermunterten sie die bürgerkriegsartigen Wirren im byzantinischen Restreich. Johannes VI. Kantakuzenos verbündete sich 1344/45 mit Sultan Orhan und stützte sich bei der Inbesitznahme des Kaiserthrons auf türkische Söldnertruppen.
 
1354 besetzten die Osmanen erstmals in Gallipoli (Gelibolu) einen festen Brückenkopf auf dem europäischen Festland. Ihre weiteren Operationen auf der Balkanhalbinsel erleichterte eine in sich zerstrittene christliche Kleinstaatenwelt, die zu keiner geschlossenen Abwehrfront gegen den äußeren Feind zusammenfand. Der Aufstieg des serbischen Reiches unter Stephan IV. Dušan hatte den Besitz des byzantinischen Kaisers auf den thrakischen Kernraum im Hinterland von Konstantinopel und auf die Ägäischen Inseln zusammenschrumpfen lassen. Die Landverbindung zur zweitgrößten griechischen Stadt Thessalonike war unterbrochen. Nur dank der byzantinischen Flottenmacht waren noch vereinzelte Küstenstützpunkte zu halten gewesen.
 
 Der Halbmond über Südosteuropa
 
Die Auflösung des Dušanreiches und des bulgarischen Assenidenreiches hatten in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts im Inneren der Balkanhalbinsel ein Machtvakuum hinterlassen, das die osmanischen Eindringlinge zu nutzen verstanden. Dabei gelang es ihnen innerhalb nur weniger Jahrzehnte, die christlichen Völker der Balkanhalbinsel ihrer Herrschaft zu unterwerfen. Dazu weiteten sie in gezielten kriegerischen Einzelunternehmungen ihren Herrschaftsbereich kontinuierlich aus. Sultan Murad I. besetzte 1361 Edirne und 1364 Plowdiw. Schon 1365 entschloss er sich, seine Residenz ganz nach Edirne zu verlegen. Weitere Stationen der militärischen Unterwerfung Südosteuropas waren die Schlacht an der Maritza am 26. September 1371, die den Osmanen Makedonien einbrachte, und schließlich die mörderische Schlacht auf dem Amselfeld am 28. Juni 1389 gegen ein bunt zusammengewürfeltes Aufgebot aus serbischen, bosnischen, kroatischen, albanischen, walachischen und bulgarischen Verbänden unter Führung des serbischen Fürsten Lazar I., durch die Serbien unterworfen wurde. Danach ereilte die bulgarischen Restreiche in Tarnowo (1393) und Widin (1396) das gleiche Schicksal.
 
Der weitere Vormarsch der Osmanen in Europa und in Kleinasien ließ sich weder durch ein eilends aufgebotenes abendländisches Kreuzzugsunternehmen, das 1396 bei Nikopolis kläglich scheiterte, noch durch den überraschenden Eroberungszug des mongolischen Heerführers Timur aufhalten, der aus Innerasien 1402 bis Ankara vorstieß. Dieser Rückschlag wurde von den Osmanen nach einer kurzen Krisenphase erstaunlich schnell überwunden.
 
 Die Einnahme Konstantinopels (1453)
 
Unter Murad II. rüsteten sie schließlich zum Aufmarsch gegen die Kaiserstadt am Bosporus. 1430 musste Thessalonike die Tore öffnen und eine türkische Besatzung aufnehmen. Vereinzelte Entlastungsangriffe, die von János Hunyadi, dem Woiwoden von Siebenbürgen (✝ 1456), geführt wurden, brachten für die christliche Verteidigungsfront nicht den gewünschten Erfolg. Ein Kreuzfahrerheer unter Wladislaw III. von Polen und Ungarn wurde 1444 bei Warna vernichtet. Das christliche Lager löste sich auf. Längst sahen sich einzelne christliche Fürsten zu Waffendiensten im osmanischen Heer verpflichtet. 1448 musste sich auch der Kriegs- held Hunyadi auf dem Amselfeld der türkischen Übermacht geschlagen geben. Der Weg zum direkten Angriff auf Konstantinopel war frei.
 
Sultan Mehmed II. zog im Frühjahr 1453 ein gewaltiges Belagerungsheer um Konstantinopel zusammen und schloss die griechischen Verteidiger, die nur noch durch ein genuesisches Hilfskontingent unterstützt wurden, von der Land- und Seeseite ein. Für den Mauerdurchbruch bediente sich der Sultan westlicher Waffentechnologie. Nach mehreren Anläufen gelang in den Morgenstunden des 29. Mai 1453 schließlich die Erstürmung des durch moderne Pulvergeschütze zerschossenen Mauerrings. Kaiser Konstantin XI. fiel im Straßenkampf. Die orthodoxe Christenheit verlor mit der Eroberung Konstantinopels ihr politisches und kirchliches Zentrum.
 
Mehmed II., der sich den Beinamen »der Eroberer« (Fatih) verdiente, brachte in den folgenden Jahren das Eroberungswerk auf der Balkanhalbinsel zum Abschluss. Er gewann Athen (1456), das Despotat von Morea bzw. Mistra (1460) mit der Peloponnes und den Außenposten Trapezunt am Schwarzen Meer (1461) hinzu und führte seine Truppen 1463 über Bosnien, die Herzegowina und Montenegro bis zur adriatischen Küste. Der albanische Widerstand brach nach dem Tode Skanderbegs 1468 zusammen. Zwei Jahrzehnte hatte der Sohn des Herrn von Mati und Dibra, der am Sultanshof erzogen worden war, an der Spitze einer »Albanischen Liga« den vorrückenden türkischen Truppen in den montenegrinisch-albanischen Bergen einen erbitterten Kleinkrieg geliefert. Um die Beherrschung der Adriaküste stand der Sultan seither in einem Dauerkonflikt mit der venezianischen Seemacht.
 
 Die Zeit der größten territorialen Ausdehnung
 
Im Norden stießen die Türken bis zur Donaugrenze vor. Das noch verbliebene nordserbische Despotat des Đura Brankovic wurde ausgelöscht, nur Belgrad trotzte 1456 dank der Hilfe Hunyadis noch einer türkischen Belagerung. Die Balkanhalbinsel war damit zu Ende des 15. Jahrhunderts weitgehend in türkischer Hand. Abgabenpflichtige Abhängigkeitsverhältnisse banden nördlich der Donau die Walachei und die Moldau an das Sultansregime. Selim I. operierte mit gleichem Erfolg an der Ostgrenze gegenüber den persischen Safawiden und den Mamelucken. Er eroberte Täbris (1514), Syrien (1516) und Ägypten (1517). Den Höhepunkt der territorialen Ausdehnung erreichte das Osmanische Reich unter Süleiman I., dem Prächtigen (1520—66). Er entriss 1522 dem Johanniterorden die Insel Rhodos und nahm den Genuesen Chios weg. 1521 erzwang er die Kapitulation der Festung Belgrad und schlug 1526 die Ungarn bei Mohács. 1529 standen seine Truppen erstmals vor dem kaiserlichen Wien.
 
 Die Habsburger und die Abwehr der Türken
 
Die Hauptverantwortung für die abendländische Türkenabwehr lastete seither auf den Schultern der Habsburger, die seit 1526 auch Könige von Ungarn waren, faktisch aber für eineinhalb Jahrhunderte auf einen schmalen Gebietsstreifen entlang der ungarischen West- und Nordwestgrenze beschränkt blieben. Trotz dringender Appelle der Päpste an die gemeinsame christliche Verantwortung blieb die Resonanz auf die sich wiederholenden Aufrufe zur »Türkenhilfe«, das heißt zur Unterstützung Habsburgs bei der Abwehr der Türken, eher verhalten. Das machtpolitische Kalkül der angesprochenen Herrscher und die unterschiedliche Interessenlage in den einzelnen Ländern dämpften die Bereitschaft zu konkreten Hilfsmaßnahmen. Die Habsburger hatten im Gegenteil sogar mit unliebsamen Machenschaften der französischen Diplomatie am Sultanshof zu rechnen. Außerdem mussten sie im Heiligen Römischen Reich — in der Hoffnung auf Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Türken — auf die verfassungsrechtlichen Wünsche der protestantischen Stände Rücksicht nehmen, die auf Gleichstellung mit den Katholiken pochten. Als Landesherren waren sie deshalb nicht zuletzt in den Erblanden zu verstärkten eigenen Anstrengungen herausgefordert. Der Aufbau einer besonderen Verteidigungsorganisation seit der Mitte des 16. Jahrhunderts an der Militärgrenze, die vornehmlich von Wehrbauern und Balkanflüchtlingen bewacht wurde, war der Versuch einer zeitgemäßen Antwort auf die andauernde militärische Herausforderung.
 
 Der Sultan und die Christen
 
Für die christlichen Balkanvölker brachten die osmanischen Eroberer — folgt man den Vorgaben der nationalen Geschichtsschreibung — eine Zeit der grausamen Unterdrückung. Nicht zu bestreiten ist die Tatsache, dass in einem islamischen Staat alle Andersgläubigen zu Untertanen minderen Rechtes herabgestuft wurden. Immerhin gestand aber schon Mohammed allen Schriftbesitzern — den Christen ebenso wie den Juden — bei freiwilliger Unterwerfung den obrigkeitlichen Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums sowie freie Religionsausübung zu. Als Schutzgebühr hatten sie die Kopfsteuer zu entrichten.
 
Im Alltagsleben hatten die Christen erhebliche Einschränkungen hinzunehmen. Sie waren von Regierungsgeschäften ausgeschlossen, durften keine Waffen tragen, hatten in der Öffentlichkeit Muslimen mit Ehrerbietung zu begegnen und gewisse unterscheidende Kleidervorschriften zu beachten, durften nicht in Wohnvierteln mit Moscheen leben oder einer Beschäftigung nachgehen, mussten ihre Religionsausübung und jegliche kultische Handlung auf den kirchlichen Innenraum beschränken. Kirchenneubauten waren generell verboten. Vor Zwangsbekehrungen zum Islam blieben die christlichen Untertanen in der Regel zwar verschont, hatten aber in periodischen Abständen durch Zwangsrekrutierungen unter der männlichen Jugend (»Knabenlese«) einen bitteren Blutzoll zu zahlen. Die berühmte Elitetruppe der Janitscharen (türkisch »Neue Truppe«), die lange Zeit als eine Art Prätorianergarde das militärische Rückgrat der osmanischen Militärmacht bildete, rekrutierte sich vorwiegend aus Balkanslawen, Albanern und Griechen.
 
Das Osmanische Reich erwies sich jedoch für Nichtmuslime nicht nur als Unterdrückungsstaat, sondern stellte in den Zeiten seiner Blüte eine respektable Ordnungsmacht im Mittelmeerraum und im Vorderen Orient dar und garantierte das friedliche Zusammenleben einer multiethnischen Bevölkerung. Dies veranlasste u. a. die sefardischen Juden, nach ihrer Vertreibung aus Spanien unter den Schutz des Sultans zu flüchten. Die Kadi-Ämter, die sich in ihren richterlichen Kompetenzen an die religiösen Vorschriften der Scharia, des islamischen Rechts, zu halten hatten, boten auch christlichen Handwerkern und Gewerbetreibenden in mancherlei Geschäften notarielle und schiedsrichterliche Hilfestellung. Allen Untertanen stand zudem das Petitionsrecht an den Sultan offen.
 
 Maßvolle Machtausübung
 
Seine wahre Stärke zeigte das Sultansregime in der Anpassungsfähigkeit an die wechselnden regionalen Gegebenheiten. Den neu erworbenen Gebieten wurden in der Regel die lokalen Gewohnheiten weitgehend belassen. Der Sultan entlohnte Loyalität mit Aufstiegschancen, die auch christlichen Untertanen nicht vorenthalten wurden. Griechische Phanarioten, die Bewohner eines Stadtviertels (Phanar) in Istanbul, fanden ein reiches Betätigungsfeld im diplomatischen Dienst und in Bankgeschäften, armenische und jüdische Händler besorgten den überregionalen Warenaustausch. Seit dem 17. Jahrhundert gewannen in zunehmenden Maße einheimische, vornehmlich griechische und aromunische (balkanische) Kaufmannsfamilien Einfluss auf das Marktgeschehen. Sie schlossen sich zu Handelskompanien zusammen und gründeten Zweigniederlassungen von den Absatzmärkten in Mitteleuropa bis in den ukrainischen Raum.
 
Der Sultan gewährte christlichen Gruppen, die Spezialdienste — etwa Bewachung von Pässen und Straßen, militärische Aufgaben — wahrzunehmen hatten oder die über spezielle Kenntnisse oder handwerkliche Fertigkeiten verfügten, großzügige Steuervergünstigungen und Privilegien. Selbst als Inhaber von Militärlehen sind gelegentlich christliche Reiter (Spahis) anzutreffen. Albanische Renegaten schafften den Aufstieg bis zu den höchsten Reichsämtern und finden sich selbst unter den Großwesiren. Ein Teil des bosnischen Adels hat durch die rechtzeitige Hinwendung zum Islam seinen ererbten Grundbesitz und seine privilegierte soziale Stellung bewahren können.
 
In Randzonen der Balkanhalbinsel und schwer zugänglichen Bergregionen begnügte sich der Sultan mit einer eher nominellen Anerkennung seiner Hoheitsrechte. Ganze Dörfer im Pindos und in Thessalien oder die Bewohner der Vojnikdörfer im Balkangebirge und in den Rhodopen blieben vom Zugriff der türkischen Behörden nahezu unbehelligt. Die aristokratische Stadtrepublik Dubrovnik erkaufte sich gegen Tributzahlungen vorteilhafte Handelsrechte innerhalb des Osmanischen Reiches und gewann während der Türkenzeit im Adriaraum und im balkanischen Karawanenhandel eine weitgehend unabhängige Stellung, die sie erst nach dem furchtbaren Erdbeben des Jahres 1667 einbüßte. Das benachbarte Montenegro war wohl 1499 nominell dem Osmanischen Reich eingegliedert worden, doch hatte der zuständige Pascha von Shkodër kaum Einfluss auf die Stämme des montenegrinischen Hochlandes. Sie lebten nach ihren eigenen Gesetzen und wurden von mächtigen Familienklanen beherrscht, unter denen der Bischof von Cetinje schließlich eine politische Vorrangstellung gewann.
 
Einen unübersehbaren Vorteil aus der Türkenherrschaft zogen nicht zuletzt auch die griechischen Hierarchen. Die siegreichen Türken rüsteten keineswegs zum Kirchenkampf. Das islamische Fremdenrecht schrieb eine Duldung nichtislamischer Bekenntnisse vor. Mohammed II. war nach den Verwüstungen der langen Kriegsjahre, die weite Landstriche entvölkert hatten, an einer raschen Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat interessiert. Er hatte unmittelbar nach der Eroberung Konstantinopels 1453 die Restitution des Ökumenischen Patriarchats verfügt und den bedeutendsten orthodoxen Theologen der Zeit, Georgios Scholarios, als Patriarch Gennadios II. eingesetzt. Seither blieb das Patriarchenamt fest in griechischer Hand. Als Sprecher (Ethnarch) aller orthodoxen Untertanen des Sultans gewann der Patriarch die obersten Entscheidungsbefugnisse zurück, die er in byzantinischer Zeit schon längst an nationalkirchliche Institutionen in den einzelnen innerbalkanischen Reichsgründungen hatte abgeben müssen. Die bulgarische und die serbische Kirche sahen sich während der Türkenzeit einem verstärkten Gräzisierungsdruck ausgesetzt und büßten nach Phasen schwankender Zuordnungen schließlich 1766/67 endgültig ihre Eigenständigkeit ein.
 
Die Osmanen verstanden es, eine absolutistische und streng militaristische Regierungsform mit einer weitgehenden Kultur- und Verwaltungsautonomie in den Regionen zu einem funktionierenden Ganzen zu verbinden. Dem theokratischen Denken des Islam folgend wickelte der Sultan jeglichen Kontakt mit seinen nichtislamischen Untertanen über die jeweiligen Kirchenführungen ab. Kirchliche Amtsträger übernahmen die Zuständigkeit für die Regelung interner Verwaltungsangelegenheiten der einzelnen Religionsgemeinschaften (Milletsystem). Für die Muslime war er weltliches Oberhaupt, Sultan, und seit der Eroberung der heiligen Stätten im 16. Jahrhundert »Kalif des Islam« in einer Person, in seiner Machtvollkommenheit eingeschränkt nur durch das religiöse Recht. Für dessen Auslegung im Einzelfall waren die Rechtsgelehrten (Ulema) zuständig. Sie hatten sich im Osmanischen Reich in der Körperschaft der Ilmiye eine streng hierarchisch gegliederte Organisationsform gegeben. Sie verstand sich als Teil des Staatsapparates und gleichzeitig als Kontrollinstanz der Staatstätigkeit.
 
 Nachwirkungen bis in unsere Zeit
 
Die Türkenherrschaft hat unter den christlichen Balkanvölkern unverwischbare Spuren hinterlassen. Sie lebt fort im äußeren Erscheinungsbild vieler ländlicher Siedlungen und Städte, die von den Minaretten der Moscheen beherrscht werden und in ausgedehnten Basarvierteln vielfältige Formen einer morgenländischen Lebensweise beherbergen. Sie findet sich in den Ess- und Trinkgewohnheiten der Bewohner, in typischen Baulichkeiten (Medresen, Bäder, Friedhöfe) und in gesellschaftlichen Umgangsformen. Die Balkanvölker haben während eines halben Jahrtausends türkischer Fremdherrschaft von ihren einstigen Zwingherren in ihrem Denken, Sprechen und Handeln, in ihren Lebensgewohnheiten und in ihrer Alltagskultur mehr aufgenommen als die späteren Ideologen der nationalen Erweckungsbewegungen wahrhaben wollten. Im Gegensatz zum Vorgehen der Tataren in Russland, die auf eine indirekte Beherrschung des unterworfenen Landes setzten, hat in Südosteuropa das enge Zusammenleben muslimischer und christlicher Bevölkerungsgruppen interkulturelle Kontakte und eine Symbiose zwischen unterschiedlichen Kulturwelten begünstigt. Dass die Türkenzeit dennoch bei allen Balkanvölkern nur ungute Erinnerungen hinterlassen hat, ist einer verständlichen parteiischen Sichtweise innerhalb der Befreiungsbewegung des 19. Jahrhunderts anzulasten. Ihre einseitig negativen Klischees sind seither über den Geschichtsunterricht der Schulen zum festen Bestandteil eines nationalen Geschichtsbildes geworden.
 
Prof. Dr. Edgar Hösch
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Nationalitätenfrage: »Pulverfass Balkan« - Nationalitätenkonflikte im 19. Jahrhundert
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Osmanisches Reich (bis 1683): Geburt und Aufstieg einer Weltmacht
 
 
Die Staaten Südosteuropas und die Osmanen, herausgegeben von Hans Georg Majer. München 1989.
 Sugar, Peter F.: Southeastern Europe under Ottoman rule, 1354-1804. Neudruck Seattle, Wash., u. a. 1993.
 Werner, Ernst: Die Geburt einer Großmacht - die Osmanen (1300-1481). Ein Beitrag zur Genesis des türkischen Feudalismus. Weimar 41985.

Universal-Lexikon. 2012.

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